Ein Netz voller Scheren, Barrieren und Chancen
Menschen mit Behinderungen nutzen das Internet weit häufiger als Nichtbehinderte. 93 Prozent der behinderten »Internetkenner« sehen im Internet »viele neue Chancen«
für sich.
Autor: tz
Zugleich beklagen 55 Prozent behinderungsspezifische Barrieren bei der technischen Zugänglichkeit und der Navigation. Dazu öffnet sich eine Schere zwischen den Behinderungsformen: Während über 50 Prozent der Blinden und Sehbehinderten von sich sagen, »Internetkenner«
zu sein, waren fast 70 Prozent der Menschen mit geistiger Behinderung noch nie im Netz. Das sind die zentralen Ergebnisse einer Umfrage der Aktion »Internet ohne Barrieren«, die das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) im Rahmen der Kampagne »Internet für alle« durchgeführt hat.
An der Umfrage beteiligten sich insgesamt 3.302 Personen – vor allem aus Betrieben, Einrichtungen zur beruflichen Rehabilitation und Selbsthilfeorganisationen. 63 Prozent Teilnehmer (2.094 Personen) haben eine Behinderung, 37 Prozent haben keine, können aber als Multiplikatoren, die mit der Situation behinderter Menschen vertraut sind, eingestuft werden. Damit ist die Umfrage zwar nicht repräsentativ für alle behinderten Menschen in Deutschland, erlaubt aber Rückschlüsse, was das Gleichstellungsgesetz für Menschen mit Behinderungen des Bundes im Hinblick auf das Internet leisten muss. Denn zunächst einmal bestätigt die Umfrage, was Fachleute schon seit langem geahnt haben: Die Bedeutung des Internet für Menschen mit Behinderungen. Mit 80 Prozent sind sie weit öfter »drin«
als der Bevölkerungsdurchschnitt mit rund 42 Prozent. Das gilt besonders für die 30- bis 49-Jährigen (86 Prozent) und die 50- bis 69-Jährigen (89 Prozent). Auffallend unterrepräsentiert sind dagegen die 14- bis 29-Jährigen mit 26 Prozent eigenen bzw. 32 Prozent Zugängen am Ausbildungsplatz.


»viele neue Chancen«.

Insgesamt 80 Prozent der Teilnehmer haben bereits Internetkenntnisse. 35 Prozent kennen sich gut (bei der jüngeren Altersgruppe bis 25 Jahre allerdings nur 28 Prozent), 45 Prozent haben es schon mal ausprobiert. Nur 20 Prozent waren noch nie im Internet. Starke Unterschiede ergibt die Umfrage hinsichtlich der Behinderungsarten: Dies betrifft vor allem Menschen mit Lernbehinderungen und geistiger Behinderung. So verfügen z. B. nur 9 Prozent der Umfrage-Teilnehmer mit geistiger Behinderung – nach eigenen Angaben – über gute Internetkenntnisse, 68 Prozent waren noch nie im Internet. Dagegen sagen über 50 Prozent der Blinden und Sehbehinderten von sich, »Internetkenner«
zu sein.
Inhalte nicht zugänglich
Technische Barrieren für behinderte Menschen sehen fast die Hälfte der Teilnehmer: Dies betrifft vor allem die ungenügende Abrufbarkeit der Inhalte durch Spezial-Ausgabegeräte (46 Prozent) sowie schlechte Lesbarkeit und Navigation (43 Prozent). Diese Barrieren werden deutlich höher durch »Internetkenner« bewertet (je 55 Prozent), die mit den Problemen konkret vertraut sind. Ganz im Gegensatz zu den Anbietern von Internetseiten.
Technische Hilfen
30 Prozent der Teilnehmer sind auf technische Hilfen angewiesen, davon:
- 31 Prozent Großbildmonitor, Lupenfunktion
- 15 Prozent Braillezeile
- 29 Prozent Sprachausgabe
- 17 Prozent Spracheingabe
- 13 Prozent Tasthilfe
Das kann zweierlei heißen: Entweder sind derzeit überwiegend Menschen mit Sehstörungen (Blindheit und Sehbehinderung) und – in zweiter Linie – körperbehinderte Menschen auf technische Hilfen angewiesen. Oder, und das ist wahrscheinlicher, Menschen mit anderen Behinderungen sind – aus welchen Gründen auch immer – einfach wesentlich weniger im Internet vertreten.
Im Hinblick auf das Gleichstellungsgesetz erlaubt die Umfrage folgendes Fazit: Obwohl Menschen mit Behinderungen wesentlich häufiger im Netz sind als Nichtbehinderte, gibt es immer noch (zu) viele technische und gestalterische Barrieren. Daher muss der Bund im Gleichstellungsgesetz mit gutem Beispiel vorangehen, und diese Barrieren bei seinen Internet-Angeboten beseitigen – ohne Wenn und Aber und in einem nachvollziehbaren Zeitrahmen.
Das Gesetz muss aber auch den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen mit Behinderungen in Form von Art der Behinderung und Alter Rechnung tragen. Sonst besteht die Gefahr, dass das Gesetz zum Beispiel Blinden und Sehbehinderten mehr Selbstbestimmung ermöglicht, aber zum Beispiel jüngere Menschen mit geistiger Behinderung von der Entwicklung abgekoppelt werden und so weiter Objekt staatlicher Fürsorge bleiben.
Das Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) zumindest hat die richtigen Schlüsse aus der Umfrage bereits gezogen: »Der Staat ist nun in der Pflicht, mit gutem Beispiel voranzugehen«
, hieß es bei der Vorstellung der Ergebnisse. Danach will das BMWi helfen, die Ergebnisse möglichst rasch zusammen mit den Wirtschaftsverbänden und Behinderten-Selbsthilfeverbänden in praktische Massnahmen im privatwirtschaftlichen Bereich umzusetzen.